Für viele Angehörige ist das Hospiz ein Ort, der langersehnte Ruhe bringt
„Als ich hier ankam, war es für mich so, als würde ich nach Hause kommen. Ich wusste, dass ich endlich nicht mehr kämpfen muss“, sagt Anette Bründl. Vor einem halben Jahr stirbt ihre Mutter im Hospiz Mittelhessen in Wetzlar an den Folgen eines Hirntumors. Dort, wo Anette Bründl vor 15 Jahren schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat.
Für die 52-Jährige ist es ein bisschen so, als würde sich die Geschichte wiederholen. Im Jahr 2004 erfährt ihre Schwester, dass sie einen Tumor im Kopf hat, der sich nicht ohne schwerwiegende Folgen operieren lässt. „Meine Schwester war gerade einmal 47 Jahre alt, für uns kam die Diagnose völlig unerwartet“, erinnert sich Anette Bründl. Für die Familie bricht eine Welt zusammen, eine Welt, in der das Hospiz Mittelhessen und die professionelle Arbeit der Palliativmediziner vor Ort plötzlich eine zentrale Rolle einnehmen.
Eine wichtige Zeit, die die Familie bewusst genießt
Die letzten drei Monate ihres Lebens verbringt ihre Schwester Bärbel im „Haus Emmaus“ in Wetzlar; für die Familie wichtige Zeit, die sie ganz bewusst nutzen kann: „Wir mussten uns plötzlich um nichts mehr sorgen, alle Last wurde uns genommen. Hier gab es Leute, die uns verstanden und daran erinnert haben, auch mal wieder an uns selbst zu denken“, sagt Anette Bründl. Vor einem halben Jahr sind diese Leute, die „uns verstehen“, plötzlich wieder da. Und auch diesmal haben sie Verständnis für alle Entscheidungen der Bründls: „Meine Mutter hatte genau den gleichen Tumor, und ich wusste, dass eine Operation nicht mehr sinnvoll gewesen wäre. Dafür mussten wir uns im Krankenhaus rechtfertigen vor Ärzten, die nicht verstanden haben, warum wir eine OP nicht wenigstens in Betracht ziehen. Das hat unendlich viel Kraft gekostet. Doch dann durften wir meine Mutter ins Hospiz bringen, und endlich kehrte Ruhe ein“, erinnert sich die Kinderkrankenschwester.
Wieder verliert Anette Bründl einen Menschen im Hospiz. Diesmal bleiben der Familie nur fünf Wochen, doch die 52-Jährige weiß: „Es waren fünf Wochen voller Liebe. Meine Mutter hat ihr Schicksal angenommen und selbst noch so viel Liebe gegeben. Das hat unsere Situation deutlich erleichtert.“
Leicht ist der Abschied am Ende trotzdem nicht. Auch nicht, obwohl die Kinderkrankenschwester und ihr Ehemann Henry als Rettungshubschrauberpilot immer wieder mit dem Thema „Tod“ konfrontiert werden: „Das Know-how hilft bei mancher Entscheidung, aber es macht die Situation nicht einfacher. In dieser schweren Zeit ist man eben doch nur ein Angehöriger“, sagt Henry Bründl.
Auf einmal stehen Anette und Henry Bründl auf der anderen Seite. Diesmal sind es nicht sie, die andere trösten, ihnen Mut machen und sie erinnern, an sich selbst zu denken. Diesmal sind es die Mitarbeiter im Hospiz, die die Bründls unterstützen, wo sie nur können: „Dafür bin ich unendlich dankbar“, sagt Anette Bründl, „Ich kann das alles mit Geld nicht bezahlen, was uns hier gegeben wurde.“ Sie wollte, dass ihre Mutter keine Schmerzen mehr hat, dass ihr Hunger und Durst gestillt werden und sie in den letzten Wochen ihres Lebens viel Liebe erfährt. Mehr nicht. All das bekommt die 88-Jährige ab der ersten Stunde im Hospiz. Die Familie kann rund um die Uhr kommen, zum Lachen, Weinen, Erinnern und schließlich auch zum Abschied nehmen.
Ein gutes Gefühl, das Anette Bründl mit Dankbarkeit erfüllt: „Wir hätten meine Mutter nicht alleine pflegen können. Das Hospiz war für uns ein wahrer Segen.“
Nach einem halben Jahr lässt der Schmerz über den Verlust ihrer Mutter langsam nach, „es gibt bessere und schlechtere Tage, aber die besseren werden langsam wieder mehr“, sagt Henry Bründl. Auch er ist dankbar, dass das Hospiz die Familie voller Hingabe unterstützt hat. Und beide sind sich einig, dass auch sie ihre letzten Tage und Wochen als Gast im Hospiz verbringen würden.
Dass es ihr einmal ergehen könnte, wie ihrer Schwester und ihrer Mutter, davor hat Anette Bründl keine Angst.
Aber etwas ganz Wichtiges haben sie und ihr Ehemann aus beiden Verlusten gelernt: „Wir leben jetzt und hier, jeden Tag. Und wir dürfen nicht immer darauf warten, dass er endlich vorbei ist. Stattdessen sollten wir es uns immer so schön wie möglich machen.“
Wetzlarer Neue Zeitung, 09. Dezember 2019, Seite 9