Dem Sterben Leben geben

Was Kerstin Steinmüller-Weiß vor dem Tod ihres Mannes im Hospiz erfahren hat, will sie weitergeben
Von Manuela Jung

Im Beruf kann sie Kraft schöpfen, er gibt ihr Halt, und das, obwohl sie genau an dem Ort arbeitet, an dem ihr Ehemann im vergangenen Jahr gestorben ist. Kerstin Steinmüller-Weiß ist Köchin im Hospiz Haus Emmaus in Wetzlar. Sie ist die Frau mit dem rot-schwarzen Buch, in dem sie Tag für Tag die Essenswünsche der Gäste einträgt. Und damit ist sie auch für die Schwerkranken mehr als eine Hauswirtschafterin.

„Über das Essen bekommst du einen anderen Zugang zu den Menschen“, davon ist Kerstin Steinmüller-Weiß nach zwölf Jahren als Hospizköchin überzeugt.

Schon vorher hat sie sich ehrenamtlich im Haus Emmaus engagiert, doch als 2007 eine Stelle frei wurde, hat sie sofort Ja gesagt, obwohl sie hauptberuflich nichts mit dem Kochen zu tun hatte: „Ich bin gelernte Tierarzthelferin“, sagt sie, „aber hier gehe ich fast jeden Tag mit einem guten Gefühl nach Hause, weil ich so viele positive Rückmeldungen bekomme.“

Kartoffelpuffer, Griesbrei, Rührei – oft sind es die Klassiker, die die Gäste wünschen, häufig verbinden sie damit die meisten Erinnerungen. Für die Köchin und ihre Kolleginnen ist es kein Problem, mehrere Gerichte nebeneinander zuzubereiten: „Uns macht das Spaß und wir lachen viel und herzlich, auch wenn eine Etage über uns möglicherweise gerade jemand verstirbt“, sagt sie. Den Respekt vor den Menschen in ihrer letzten Lebensphase hat Kerstin Steinmüller-Weiß deswegen aber nicht verloren: „Ich komme hierher und die Menschen leben. Der Humor darf niemals verloren gehen.“

Als sie darüber spricht, erinnert sich die 61-Jährige, wie vor einigen Jahren ein Gast vor der Küche stand und sie gefragt hat, wo sie denn nun ihren Löffel abgeben könne: „Sie glauben nicht, wie lange wir uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt haben.“

Für Kerstin Steinmüller-Weiß ist die Küche ein Ort zum „Löffel abgeben“, das Hospiz aber nicht: „Natürlich versterben hier regelmäßig Menschen“, sagt sie, „aber so lange sie leben, sollen sie möglichst jeden Augenblick nutzen und bewusst verbringen.“

Steinmüller-Weiß spricht aus Erfahrung. Im vergangenen Jahr war es ein herber Schicksalsschlag, der sie täglich ins Hospiz kommen ließ, dann allerdings nicht zum Arbeiten. „Mein Mann hat die letzten sieben Wochen seines Lebens hier verbracht“, erzählt sie, „er hatte einen Hirntumor, der schnell streute und ihn zu einem anderen Menschen werden ließ. Mit der Zeit ging es Franz immer schlechter, Chemo und Bestrahlung hatten nichts gebracht.“

Mutig fasste Kerstin Steinmüller-Weiß schließlich den Entschluss, ihren Ehemann in das Haus Emmaus zu verlegen: „Die ganze Pflege, das hätte ich nicht allein geschafft. Mein Mann wurde oft sauer, weil er die einfachsten Dinge nicht mehr hinbekam. Auch dann konnte ich einen Knopf drücken und ein Pfleger klärte die Angelegenheit, ohne, dass ich mich weiter darum kümmern musste.“

Für die 61-Jährige und ihren damals 65-jährigen Mann waren es sieben wertvolle Wochen, auch wenn sie beide wussten, dass das Ende einer 43-jährigen Bekanntschaft und einer 33 Jahre anhaltenden Ehe schnell nahen würde: „Die Ärzte gaben ihm Wochen, allerhöchstens Monate“, erinnert sie sich, „und genau deshalb war es die richtige Entscheidung, die übrige Zeit im Hospiz zu verbringen.“ Hier kümmerten sich die Mitarbeiter um die Pflege und alles Notwendige, während Kerstin Steinmüller-Weiß zu jeder Zeit kommen und auch hier übernachten konnte. Besonders in den letzten Tagen hat sie das genutzt.

Und dann kam er, der zweite Weihnachtsfeiertag 2018: „Mein Mann hat gerne Weihnachten gefeiert, es war schon bezeichnend, dass er ausgerechnet dann verstarb“, sagt Steinmüller-Weiß. Viele Stunden hätten sie und die Familie – ihr Ehemann hatte noch fünf Geschwister – am Sterbebett in Zimmer 1 verbracht, sich erinnert, gemeinsam geweint und auch gelacht. „Es war ein bisschen so, als wollte er uns auch in diesem Jahr traditionell zum zweiten Feiertag zusammen wissen. Hätte er noch gelebt, hätte unser Familientreffen zum ersten Mal nicht stattgefunden.“ Kerstin Steinmüller-Weiß verarbeitet den Tod ihres Mannes gut, das Hospiz und die vielen freundlichen Kollegen, aber auch ihre Ausbildung zur Sterbebegleiterin und der tägliche Umgang mit dem Sterben haben ihr Kraft gegeben, auch wenn es kein leichter Weg war, wie die 61-Jährige schildert: „Nur acht Wochen später verstarb mein Schwager, auch an einem Hirntumor, auch hier im Hospiz. Es waren insgesamt fünf Beerdigungen nahe stehender Menschen in einem halben Jahr. Das was einfach zu viel Sterben in einem zu kurzem Zeitraum.“

Wetzlarer Neue Zeitung, 05. November 2019, Seite 9

„ES GEHT UM MEHR ALS UM DAS STERBEN“
Neben hauptamtlichen Mitarbeiterinnen wie Kerstin Steinmüller-Weiß gibt es auch zahlreiche Ehrenamtliche , die das Haus Emmaus in ihrer Freizeit unterstützen. Eine von ihnen ist Ingrid Dietz. Genau zehn Jahre ist es her, als sie im Hospiz ihre Arbeit aufgenommen hat. Seitdem kommt sie regelmäßig und unterstützt dort, wo sie es kann: „Ich möchte die Mitarbeiter entlasten, damit sie sich mehr Zeit für unsere Gäste nehmen können“, sagt Dietz.

Die Ehrenamtliche scheut es aber nicht, auch selbst das Gespräch mit den schwer erkrankten Menschen zu suchen: „Viele kommen mit ihren Fragen zu mir oder brauchen einfach mal ein offenes Ohr. Natürlich sage ich da nicht Nein. Hier geht es um mehr, als um das Sterben . Oft ist es eine lockere Unterhaltung , ein anderes Mal ist es ein warmer Schokopudding, mit dem du einen Gast glücklich machen kannst“, weiß die 69-Jährige, die den Menschen Mut machen will, keine Angst vor dem Sterben zu haben: „Wir werden geboren und vertrauen blind auf das, was kommt. Warum soll das nicht auch so mit dem Sterben sein?“

Doch Ingrid Dietz spricht mit den Gästen nicht nur über das Sterben, sie ist überzeugt, dass die vielen schönen Erinnerungen am Lebensende einen heilsamen Effekt haben. Das hat sie auch bei ihrer Schwägerin erlebt, die für vier Monate im Hospiz lebte und sich so gut erholte, dass sie wieder nach Hause konnte. „Sie hat hier ein neues Leben geschenkt bekommen“, sagt Ingrid Dietz aus Überzeugung . Ein Grund mehr, weshalb die Ruheständlerin ihre Kraft und Zeit gerne in das Haus Emmaus steckt: „Ich gehe nach Hause und bin reichlich beschenkt mit der Glückseligkeit der
Menschen. Das ist meine wahre Bezahlung.“